Unter der Lupe: Easy-to-ignore-Gruppen und aufsuchende MINT-Bildung – Teil 2

Hingehen statt Übersehen– wie bisher nicht erreichte Zielgruppen mit MINT-Angeboten erreicht werden können

Das Foto hat eine dekorative Funktion. Es zeigt drei Kinder, die an einem Tisch sitzen. Das Linke hält sich die Augen zu, das Mittlere hält sich die Ohren zu, das Rechte hält sich den Mund zu. In der unteren linken Ecke steht "Teil 3".
Foto: Keren Fedida auf Unsplash

Einordnung

Die Sicherung von Fachkräften im MINT-Bereich ist eine zentrale Herausforderung. Um diese zu meistern, müssen wir junge Menschen für MINT-Fächer begeistern und qualifizieren. Hier gibt es noch viele ungenutzte Potenziale. Zum Beispiel Kinder und Jugendliche, die aus den unterschiedlichen Gründen noch keinen Zugang zu (MINT)-Bildungsangeboten gefunden haben.

Wir möchten genauer hinschauen: Wer sind diese Gruppen von jungen Menschen, deren Potenziale leicht übersehen werden (können)? Welche Faktoren spielen eine Rolle? Welche Bezeichnungen werden verwendet? Und wie müssen Angebote zugeschnitten sein, um diese Gruppe(n) zu erreichen?

Im ersten Teil dieses Beitrags soll eine Annäherung an den Begriff „Easy-to-ignore-Gruppen“ („leicht zu übersehende Gruppen”)erfolgen, da er auch für diese Gruppen, die bisher kaum durch Bildungsangebote erreicht werden, verwendet wird. Wir meinen damit im Speziellen Kinder und Jugendliche mit unterschiedlichen, herausfordernden Lebenslagen und Bildungsgeschichten. Dabei legen wir den Fokus auf MINT-Angebote und richten den Blick darauf, wie und an welchen Orten diese Zielgruppe(n) erreicht werden können. Im zweiten Teil des Beitrags geht es um die Rolle der Easy-to-ignore-Gruppen bei der Arbeit von zdi.NRW: Wer sind die Gruppen, die wir unseren MINT-Angeboten noch nicht erreichen und wie können wir dies ändern? Im dritten Teil zeigen wir Ansätze und Praxisbeispiele auf, wie aufsuchende MINT-Bildung im zdi-Kontext gelingen kann und welche Schritte dafür notwendig sein werden.

Den vollständigen Text als PDF gibt es hier zum Download:

Welche Gruppen werden im zdi-Kontext aktuell häufig übersehen?

Easy-to-ignore-Gruppen sind keine homogenen Gruppen. Je nach Kontext können andere Menschen damit gemeint sein. Im zdi-Kontext handelt es sich dabei um Kinder und Jugendliche, deren Potenziale aus den unterschiedlichsten Gründen –  von der herausfordernden Lebenslage bis zur individuellen Bildungsgeschichte – noch keinen Zugang zu außerschulischer MINT-Bildung gefunden haben. Die Gründe dafür können einzeln oder vielfältig sein, sie können in der Person, in ihrem Umfeld, ihren sonstigen Lebensumständen, auch in schulischen Kontexten oder an der Attraktivität oder Ausgestaltung der Angebote liegen. Typische Beispiele sind personell oder infrastrukturell eingeschränkte Bedingungen an Schulen, die Kooperationspartner für zdi-Angebote sind, der verkehrstechnische Zugang zu außerschulischen Lernorten, inhaltlich nicht attraktive Themen der Angebote, methodisch oder pädagogisch nicht passende Angebote, ungeeignete Kommunikationsformen u.v.m. Diese Gruppe macht Schätzungen zufolge in vielen Handlungsfeldern (so auch in der MINT-Bildung) 40% bis zu 95% einer Alterskohorte aus.

Obwohl jährlich NRW-weit tausende junge Menschen erreicht werden, zeigt sich beim Blick in das zdi-Monitoring: Die zdi-Netzwerke pflegen deutlich häufiger Partnerschaften mit Gymnasien als mit Haupt-, Sekundar- oder Förderschulen. Schaut man sich die Angebote der Netzwerke an, zeigt sich auch hier eine klare Tendenz zu Angeboten für Gymnasien und Gesamtschulen.

Zahlen aus der zdi-Community

Die zdi-Netzwerke pflegen in etwa 2.000 Schulpartnerschaften (hierzu zählen der Vollständigkeit halber auch Kitas). Es zeigt sich: Die meisten Partnerschaften bestehen mit Gymnasien. Kinder aus Haupt-, Sekundar- und Förderschulen werden über diese Kooperationen also weniger erreicht.

Die Grafik zeigt in einem Balkendiagramm die Aufteilung der rund 2.000 Schulpatenschaften in Prozent: Kita 21,7%. Grundschule 19,8%, Hauptschule 3,7%, Realschule 9,9%, Gymnasium 24,6%, Gesamtschule 11,3%, Berufskolleg 3,9%, Förderschule 2,3%, Sekundarschule 2,8%
Zahlen aus dem zdi-Monitoring 2023.

Bei zdi.NRW werden zwei Angebotsarten unterschieden: Angebote innerhalb des Förderprogramms „zdi-BSO-MINT“ und Angebote, die außerhalb dieses Programms laufen. Diese werden in zwei separaten Monitorings erhoben und analysiert. Auch hier zeigt sich in beiden Fällen, dass sich Angebote sehr viel häufiger an Gymnasiast:innen und seltener an Hauptschüler:innen richten. (Hinweis: Die Summe der Prozentangaben liegt über 100%, da sich ein Angebot an mehrere Schulformen richten kann. Die Grundmenge der definierten Angebote liegt bei rund 1300.)

Die Grafik zeigt in einem Balken-Diagramm in Prozent an, an welche Schulformen sich die rund 1.300 Maßnahmen außerhalb des zdi-BSO-MINT-Programms richten: Kitas 11,5%, Grundschule 31,8%, Hauptschule 13,6%, Realschule, 22,7 %, Gymnasium 42,9%, Gesamtschule 37,5%, Berufskolleg 10,1%, Förderschule 9,0%, Sekundarschule 16,0%
Zahlen aus dem zdi-Monitoring 2023.


Der Anteil an Schüler:innen von Gymnasien, die zdi-BSO-MINT-Kurse besuchen, übersteigt die Zahl von Schüler:innen anderer Schulformen: Der Anteil von Schüler:innen, die eine Schulform mit gymnasialer Oberstufe besuchen, beträgt hier knapp über 76 %.

Die Grafik zeigt in einem Balkendiagramm die Summe der Schüler:innen nach Schulformen an, die zdi-BSO-MINT-Kurse besuchen: Hauptschule 745, Ralschule 4.763, Gymnasium 16.567, Gesamtschule 8.570, Gemeinschaftsschule 89, Förderschule 564, Sekundarschule 1568
Zahlen aus dem zdi-Monitoring 2023.

Ob ein junger Mensch zu einer „Leicht-zu-übersehenden-Gruppe” zählt oder nicht, hängt nicht von der besuchten Schulform ab. Die Zahlen zeigen allerdings, dass wir Schüler:innen von bestimmten Schulformen im zdi-Kontext bisher weniger erreichen.

Ziel von zdi.NRW ist es, junge Menschen aus der großen und heterogenen Easy-to-ignore-Gruppe für die außerschulische MINT-Bildung zu gewinnen und Gelingensbedingungen herauszuarbeiten. Ein erfolgversprechender Weg dorthin ist die frühe und co-kreative Einbindung junger Menschen in die Entwicklung und Umsetzung der Programme und Angebote. Ein möglicher Ansatz dafür ist die aufsuchende MINT-Bildung.

Aufsuchende MINT-Bildung: Wie können wir Kinder und Jugendliche in ihrer Lebenswelt erreichen?

Um die oben genannte(n) Zielgruppe(n) anzusprechen, wurde der Ansatz der „aufsuchenden Bildungsarbeit“ entwickelt. Dieser Begriff stammt aus der pädagogischen und sozialen Arbeit und hat das Ziel, Bildungsangebote zu den Menschen zu bringen, indem sie in ihrem gewohnten Umfeld „aufgesucht“ werden. Menschen müssen in diesem Konzept nicht auf Bildungseinrichtungen zukommen, sondern diese kommen zu ihnen.

Das Bildungsangebot wird dadurch direkt in der Lebenswelt der Jugendlichen präsent. Die Entwicklung von Bildungsangeboten erfolgt co-kreativ, bezieht die jungen Menschen ein und bietet so die Möglichkeit, auf individuelle Lebenssituationen eingehen zu können. Eine aktive Beteiligung und das Gefühl, gehört zu werden, kann ein nachhaltiges Engagement begünstigen.

Dieser Ansatz wird wie folgt definiert:

„[Bei der aufsuchenden Bildungsarbeit] wird die klassische Komm-Struktur – die Adressatinnen und Adressaten kommen zu den Bildungseinrichtungen – um eine Geh-Struktur ergänzt. Auf diese Weise kann Lebensweltnähe hergestellt werden, aber vor allem kann Eltern- und Familienbildung über Wege der persönlichen Ansprache Zugangsbarrieren zu ihren traditionellen Bildungsorten überwinden.“ [1]

Außerdem wird betont: „Bildungsarbeit muss mit konkreter Lebenshilfe verknüpft sein, um einen erkennbaren und möglichst kurzfristig realisierbaren Nutzen sowie eine Sinnhaftigkeit für die Zielgruppe darzustellen.“[2]


Hinweis: Dieser Beitrag bildet einen Arbeitsstand und nicht den Abschluss einer Diskussion ab. Vielmehr zeigt er einen Entwicklungsstand sowie eine Annäherung an bestimmte Begrifflichkeiten und bildet die Grundlage für weitere Schritte in der MINT-Bildungsarbeit der zdi-Community mit bestimmten Zielgruppen.  

Überarbeitung Januar 2024: Im Austausch mit der zdi-Community haben wir uns dazu entschlossen, im Deutschen künftig den Begriff „übersehen” anstelle von „ignorieren” nutzen zu wollen. So wird deutlicher, dass die Easy-to-ignore-Gruppen nicht absichtlich „ignoriert” werden, sondern durch strukturelle Defizite in unserer Gesellschaft häufiger „übersehen” werden. Den Beitrag haben wir deshalb an den entsprechenden Stellen überarbeitet.

Zurück zu Teil 1 – Was bedeutet „Easy-to-ignore“ und wer sind die jungen Menschen, die wir leicht übersehen?

Weiter zu Teil 3 – Aufsuchende MINT-Bildung in der Praxis

Bei Fragen zum Thema oder zu den Angeboten im Bereich aufsuchende MINT-Bildung/zdi-BSO-MINT-Lab meldet Euch gerne bei:

Beratung:

Kommunikation:


[1] „Familienbildung, Grundschule und Milieu – Eine Expertise im Rahmen des Projekts: Familienbildung während der Grundschulzeit. Sorgsame Elternschaft ‚fünf bis elf‘, Hrsg. Dir Landesarbeitsgemeinschaften der Familienbildung in NRW, Autoren: Prof. Dr. Helmut Bremer und Dipl. Sozialwiss. Mark Kleemann-Göhring, Universität Duisburg, 2012: https://familienbildung-in-nrw.de/fileadmin/user_upload/Images/Content/fachkraefte/Familienbildung_Grundschule_Milieu.pdf (abgerufen am 25.07.2023)

[2] „Aufsuchende Bildunsgarbeit – Mehr Chancengleichheit und Teilhabe“, Volkshochschulverband Baden-Württemberg e.V.; https://www.vhs-bw.de/projekte/aufsuchende-bildungsarbeit/ (abgerufen am 25.07.2023)

[3] „Aufsuchende Bildunsgarbeit – Mehr Chancengleichheit und Teilhabe“, Volkshochschulverband Baden-Württemberg e.V.; https://www.vhs-bw.de/projekte/aufsuchende-bildungsarbeit/ (abgerufen am 19.07.2023)


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