Hingehen statt Übersehen – wie bisher nicht erreichte Zielgruppen mit MINT-Angeboten erreicht werden können
Einordnung
Die Sicherung von Fachkräften im MINT-Bereich ist eine zentrale Herausforderung. Um diese zu meistern, müssen wir junge Menschen für MINT-Fächer begeistern und qualifizieren. Hier gibt es noch viele ungenutzte Potenziale. Zum Beispiel Kinder und Jugendliche, die aus den unterschiedlichen Gründen noch keinen Zugang zu (MINT)-Bildungsangeboten gefunden haben.
Wir möchten genauer hinschauen: Wer sind diese Gruppen von jungen Menschen, deren Potenziale leicht übersehen werden (können)? Welche Faktoren spielen eine Rolle? Welche Bezeichnungen werden verwendet? Und wie müssen Angebote zugeschnitten sein, um diese Gruppe(n) zu erreichen?
Im ersten Teil dieses Beitrags soll eine Annäherung an den Begriff „Easy-to-ignore-Gruppen“ („leicht zu übersehende Gruppen”) erfolgen, da er auch für diese Gruppen, die bisher kaum durch Bildungsangebote erreicht werden, verwendet wird. Wir meinen damit im Speziellen Kinder und Jugendliche mit unterschiedlichen, herausfordernden Lebenslagen und Bildungsgeschichten. Dabei legen wir den Fokus auf MINT-Angebote und richten den Blick darauf, wie und an welchen Orten diese Zielgruppe(n) erreicht werden können. Im zweiten Teil des Beitrags geht es um die Rolle der Easy-to-ignore-Gruppen bei der Arbeit von zdi.NRW: Wer sind die Gruppen, die wir unseren MINT-Angeboten noch nicht erreichen und wie können wir dies ändern? Im dritten Teil zeigen wir Ansätze und Praxisbeispiele auf, wie aufsuchende MINT-Bildung im zdi-Kontext gelingen kann und welche Schritte dafür notwendig sein werden.
Den vollständigen Text als PDF gibt es hier zum Download:
Was bedeutet „Easy-to-ignore“ und wer sind die jungen Menschen, die wir leicht übersehen?
Der Begriff „Easy-to-ignore” (frei übersetzt „leicht zu übersehen“) findet sich vor allem im englischsprachigen Raum. Dort wird er nicht nur im Bildungskontext genutzt. Vielmehr bezieht sich der Begriff auf Ungleichheiten in der Gesellschaft insgesamt. Allgemein gefasst sind „Easy-to-ignore“-Gruppen solche, deren Potenziale, bedingt durch ihre Lebenssituation, leicht übersehen werden (können). Dies führt zu einer Verminderung von Teilhabe und einem erschwerten Zugang zu öffentlicher Förderung und Angeboten. Dabei ist die jeweilige Lebenssituation geprägt von verschiedenen Dimensionen wie Zugang zu Bildung, Selbstvertrauen, Ressourcen (Finanzen, Zeit, Kapazitäten) und Sprache. Durch diese Dimensionen werden Barrieren aufgebaut, die diese Gruppen für Bildungsakteur:innen häufig nicht sichtbar, also „leicht zu übersehen“ machen. Die Verantwortung, genauer hinzuschauen und etwas gegen dieses Übersehen zu tun, liegt bei den Bildungsakteur: innen und nicht bei den Gruppen selbst, die durch die jeweiligen Barrieren bereits Einschränkungen erfahren.
zdi.NRW richtet den Fokus auf folgende sogenannte Easy-to-ignore-Gruppen:
- Jene, die aus den unterschiedlichen Gründen, von der herausfordernden Lebenslage bis zur individuellen Bildungsgeschichte, noch keinen Zugang zu außerschulischer MINT-Bildung gefunden haben.
- Jene, die mit Hindernissen zu kämpfen haben und sich nicht für sich selbst stark machen können.
- Jene, die in MINT-Bildungsangeboten unterrepräsentiert sind.
Woher stammt der Begriff?
Foto: Fife Centers for Equalities
Das schottische „Fife Center for Equalities“ hat den Begriff „Easy-to-ignore“-Gruppen mitgeprägt.[1] Die Wohltätigkeitsorganisation wurde 2014 gegründet und setzt sich für Diversität und Inklusion in vielen gesellschaftlichen Bereichen in der schottischen Council Area (Bundesland) Fife ein. Die Organisation definiert „Easy-to-ignore“-Gruppen als Gruppen, denen die Kapazitäten für gesellschaftliche Teilhabe fehlen und die deshalb in bestimmten Kontexten unterrepräsentiert sind. Dazu zählen in der Regel Menschen, die von mindestens einer Diskriminierungsdimension (Rassismus, Ableismus, Sexismus, Altersdiskriminierung…) betroffen sind. Entsprechend werden auch Identitäts- und Interessengruppen einbezogen. Die Covid-Pandemie habe zudem neue Barrieren geschaffen, indem verstärkt auf digitale Strategien gesetzt wurde, die aber nicht allen in gleichem Maße zugänglich waren (und sind).
Begriffe in der deutschsprachigen Forschung und Bildungsarbeit
In der deutschsprachigen Forschung und Bildungsarbeit spricht man bisher wenig von „Easy-to-ignore“-Gruppen. Es gibt allerdings verschiedene Konzepte und Begriffe, die sich mit sogenannten „bildungsbenachteiligten Jugendlichen“ befassen. Es ist wichtig anzumerken, dass diese Begriffe in verschiedenen Kontexten unterschiedlich verwendet werden können. Sie dienen dazu, auf die Ursachen bestehender Bildungsungleichheiten aufmerksam zu machen und Maßnahmen zu entwickeln, um die Chancengleichheit und den Zugang zur Bildung für alle Jugendlichen zu verbessern. Gleichzeitig bergen diese Begriffe immer das Risiko, stigmatisierend zu wirken, weshalb sich gerade in diesem Bereich die Begrifflichkeiten häufig verändern.
Bildungsbenachteiligung
In diesem Kontext wird zum Beispiel von Bildungsbenachteiligung gesprochen. Dieser Begriff bezieht sich allgemein auf strukturelle Ungleichheiten, die sich auf den Zugang zum Bildungssystem auswirken und bei denen bestimmte Gruppen von Jugendlichen (oder auch Erwachsenen) im Vergleich zu anderen weniger Zugang zu Bildung und damit verbundene Chancen haben[2]. Bildungsbenachteiligung kann auf verschiedene Dimensionen zurückzuführen sein.
Bildungsferne
Eine dieser Dimensionen kann eine sogenannte Bildungsferne des sozialen Umfelds (in erster Linie der Familie) sein. Dieser Begriff wird allerdings nicht eindeutig verwendet und kann entsprechend verschieden verstanden werden[3]. Zum Teil wird der Begriff der Bildungsferne genutzt, um eine durch einen Mangel an Wissensnachweisen resultierende Distanz zur formalen Hochschulbildung auszudrücken. Bildungsferne kann aber auch als Position verstanden werden, von der aus ein Zugang Bildung verwehrt wird und die Bildungsangebote deshalb in ferner Distanz liegen. Der Begriff kann zudem in der Form missverstanden werden, dass er suggeriert, die von dieser Dimension betroffenen Menschen würden sich aktiv von den Bildungsangeboten fernhalten.
Bildungsarmut
Auch die Dimension der Bildungsarmut kann als Begriff irreführend sein. Gemeint ist, laut Definition der Soziologin Prof. Dr. Jutta Allmendinger, eine Armut an Bildungszertifikaten und Bildungskompetenzen[4]. Der Begriff wird aber auch verwendet, um eine Situation zu beschreiben, in der Menschen aufgrund finanzieller Einschränkungen und mangelnder Ressourcen keinen oder wenig Zugang zu Bildung haben. Nach diesem Verständnis wirkt sich Bildungsarmut auf verschiedene Aspekte aus, wie zum Beispiel fehlende Lernmaterialien, eine unzureichende Lernumgebung oder begrenzte finanzielle Unterstützung für Bildungsaktivitäten.
Beide Dimensionen spielen in den Faktor der Sekundären Herkunftseffekte[5] hinein. Diese treten beim Übergang in die weiterführende Schule in Kraft und beschreiben, wie sich die jeweilige soziale Herkunft der Familie auf die Wahl und den Zugang zur weiterführenden Schule auswirkt.
(sonderpädagogischer) Förderbedarf
Eine weitere Dimension, die sich wiederum in verschiedene Bereiche gliedert, ist der (sonderpädagogische) Förderbedarf. Dieser ist in Deutschland definiert als Beeinträchtigung der Bildungs-, Entwicklungs- und Lernmöglichkeiten, durch die eine hinreichende Förderung ohne sonderpädagogische Unterstützung nicht möglich ist[6]. Bildungsbenachteiligung in dieser Dimension entsteht dann, wenn die benötigte Förderung fehlt, sei es durch zu wenig (entsprechend geschultes) Personal, aufgrund von ungeeignetem Lehrmaterial oder Angebotsformat, u.v.m.. Die Definition von Förderbedarf musste sich schon bei ihrem Aufkommen großer Kritik stellen. Vor allem die formalen Konsequenzen der Zuschreibung eines Förderbedarfs, nämlich der Wechsel zu einer oder die Einschulung in eine Förderschule, wird hierbei hinterfragt und kritisiert. [7]
Intersektionalität
Bei den Dimensionen der Bildungsbenachteiligung spielt auch Intersektionalität eine Rolle. So sind beispielsweise Menschen mit Behinderung in Deutschland häufiger von Armut betroffen[8]. Auch sind Kinder und Jugendliche von Eltern mit niedrigem Bildungsabschluss (nach der oben stehenden Terminologie also aus bildungsfernen oder bildungsarmen Familien stammende Kinder) häufiger von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. In Deutschland war 2022 laut Statistischem Bundesamt fast jede:r Vierte unter 18 Jahren dieser Bedrohung ausgesetzt.[9]
Lebenslagen
Auch in den Aspekt der Lebenslagen spielen unterschiedliche Faktoren hinein. Mit Lebenslagen ist das Zusammenspiel von zum Beispiel sozio-demographischen, sozio-ökonomischen, geographischen und wirtschaftlichen Faktoren gemeint. Inwiefern diese Faktoren sich auch tatsächlich auf den Zugang zudie Bildung auswirken, muss noch gezeigt werden und ist individuell unterschiedlich. In der zdi-Praxis hat sich beispielsweise gezeigt, dass in großflächigen, ländlichen Regionen das Besuchen von außerschulischen Lernorten durch eine schlechtere Erreichbarkeit erschwert wird. Oder dass die wirtschaftliche Aufstellung einer Region mit Fokus auf technische, produzierende Gewerbe, die Zusammenarbeit mit Unternehmen im Bereich der außerschulischen MINT-Bildung erleichtert im Vergleich zu Regionen mit einer höheren Anzahl an Unternehmen mit Dienstleistungsfokus. Genauso wie die sozio-demographische Zusammensetzung an einer Schule sich auf Bildungsangebote und die Teilhabe daran auswirken kann – unabhängig von der jeweiligen Schulform.
Da die im deutschsprachigen Diskurs genutzten Begriffe wie oben beschrieben ihre „Tücken“ mit sich bringen, möchten wir in der zdi-Community den englischsprachigen Begriff Easy-to-ignore-Gruppen nutzen, den wir im Deutschen als „leicht zu übersehende Gruppen” übersetzen. Durch diesen Begriff wird deutlicher, bei wem die Verantwortung für eine chancengerechte und empowernde MINT-Bildung liegt: Nicht bei der Gruppe, die wir erreichen möchten, sondern bei uns, den MINT-Akteur:innen!
Hinweis: Dieser Beitrag bildet einen Arbeitsstand und nicht den Abschluss einer Diskussion ab. Vielmehr zeigt er einen Entwicklungsstand sowie eine Annäherung an bestimmte Begrifflichkeiten und bildet die Grundlage für weitere Schritte in der MINT-Bildungsarbeit der zdi-Community mit bestimmten Zielgruppen.
Überarbeitung Januar 2024: Im Austausch mit der zdi-Community haben wir uns dazu entschlossen, im Deutschen künftig den Begriff „übersehen” anstelle von „ignorieren” nutzen zu wollen. So wird deutlicher, dass die Easy-to-ignore-Gruppen nicht absichtlich „ignoriert” werden, sondern durch strukturelle Defizite in unserer Gesellschaft häufiger „übersehen” werden. Den Beitrag haben wir deshalb an den entsprechenden Stellen überarbeitet.
Weiter zu Teil 2 – Welche Gruppen werden im zdi-Kontext aktuell häufig übersehen?
Bei Fragen zum Thema oder zu den Angeboten im Bereich aufsuchende MINT-Bildung/zdi-BSO-MINT-Lab meldet Euch gerne bei:
Beratung:
Kommunikation:
Kerstin Helmerdig
Katharina Glowalla
[1] „Engaging with EASY-TO-IGNORE communities”, Hrsg. Fife Centre for Equalities, März 2021; https://centreforequalities.org.uk/ (abgerufen am 08.07.2024)
[2] „Chancengleichheit zwischen Anspruch und Wirklichkeit“, Hrsg. Bundeszentrale für Politische Bildung, Autoren: Wulf Hopf, Benjamin Edelstein, veröffentlicht am 12.09.2018: https://www.bpb.de/themen/bildung/dossier-bildung/174634/chancengleichheit-zwischen-anspruch-und-wirklichkeit/ (abgerufen am 08.07.2024)
[3] „Der Begriff Bildungsferne“, Hrsg. Wegweiser Bürgergesellschaft, ein Projekt der Stiftung Mitarbeit, Autorin: Tabea Witt: https://www.buergergesellschaft.de/praxishilfen/sozialraumorientierte-interkulturelle-arbeit/die-zugrunde-liegende-forschung/der-begriff-der-bildungsferne#alles-auf-einer-seite (abgerufen am 08.07.2024)
[4] „Bildungsarmut“, Hrsg. Bundeszentrale für politische Bildung in der Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“, Autor:innen: Jutta Allmendinger, Stephan Leibfried, veröffentlicht am 28.05.2003: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/27619/bildungsarmut/ (abgerufen am 08.07.2024)
[5] „Ursachen von Bildungsungleichheiten“ Hrsg. Bundeszentrale für politische Bildung, Autor: Kai Maaz, veröffentlicht am 08.12.2020: https://www.bpb.de/themen/bildung/dossier-bildung/322528/ursachen-von-bildungsungleichheiten/ (abgerufen am 08.07.2024)
[6] „Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland 2017/2018. Darstellung der Kompetenzen, Strukturen und bildungspolitischen Entwicklungen für den Informationsaustausch in Europa.“, Kapitel „Pädagogische Förderung und Beratung“, Absatz 12.2 , S. 264, Kultusministerkonferenz 2019, in Zusammenarbeit mit der Deutschen EURYDICE-Informationsstelle des Bundes beim Bundesministerium für Bildung und Forschung, Berlin, 2019: https://www.kmk.org/dokumentation-statistik/informationen-zum-deutschen-bildungssystem/dossier-deutsch.html (abgerufen am 08.07.2024)
[7] „Sonderpädagogischer Förderbedarf“, Abschnitt 2: Begriffliche Abgrenzung; Hrsg. socialnet Lexikon, Autorin: Prof. Dr. Gwendolin Bartz, veröffentlicht am 31.08.2022: https://www.socialnet.de/lexikon/Sonderpaedagogischer-Foerderbedarf (abgerufen am 08.07.2024)
[8] „Dritter Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen“, Hrsg. Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Bonn, April 2021, Abschnitt 5: Erwerbstätigkeit und materielle Lebenssituation; https://www.bmas.de/DE/Service/Publikationen/Broschueren/a125-21-teilhabebericht.html (abgerufen am 08.07.2024)
[9] „Kinder und Jugendliche von Eltern mit niedrigem Bildungsabschluss besonders von Armut bedroht – Pressemitteilung Nr. N045“, Statistisches Bundesamt, veröffentlicht am 26.07.2023: https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2023/07/PD23_N045_63.html (abgerufen am 08.07.2024)