Ein metallisches Klicken, dann öffnet sich das Tor zum Hof des Dachdeckermeisterbetriebs Meusch in Bergheim. Was auf den ersten Blick aussieht wie eine normale Doppelhaushälfte in der 60.000 Einwohner Stadt, beherbergt einen Traditionsbetrieb, der seit vier Generationen im Familienbesitz ist und heute von einer Frau geführt wird: Marion Meissner…Anlässlich des zdi-Heldinnen-Oktobers haben wir Marion Meissner in Bergheim besucht und mit ihr über Hürden für Frauen im Handwerk, ihre Berufung und den Weg in die unternehmerische Selbstständigkeit gesprochen.
Fragt man Marion Meissner danach, was sie als Kind werden wollte, antwortet sie wie aus der Pistole geschossen: „Dachdeckermeisterin“. Nicht Handwerkerin, nicht Dachdeckerin – sie wusste schon sehr früh, dass sie den Meisterabschluss machen will. „Mein Vater war Dachdeckermeister und für mich war immer klar: Das will ich auch“, erinnert sie sich. „Ich wollte immer den Betrieb führen und das kann man nur als Meisterin. Ich wollte nicht fremdbestimmt sein, sondern selbst wissen, wie die Dinge gehen.“

David gegen Goliath – Ihr Weg ins Handwerk
Als die 16-jährige Marion Meissner die Zusage für eine Ausbildungsstelle als Dachdeckergesellin bekommt, scheint sich alles zu fügen. Zwei von drei Töchtern haben einen andere Karrierewege eingeschlagen, umso mehr freut sich Ferdinand Meusch, dass seine Jüngste nun in seine Fußstapfen tritt. „Ich glaube, ein bisschen stolz war er schon, auch wenn er das nie gezeigt hat“, erinnert sich Marion Meissner. „Andere haben gesagt ich wäre verrückt.“ Damals, in den 1980er Jahren, ist es Frauen verboten auf dem Bau zu arbeiten. In der noch gültigen Arbeitszeitordnung von 1938 heißt es, die Beschäftigung von weiblichen Jugendlichen und Frauen „bei Bauten aller Art mit den eigentlichen Betriebsarbeiten“ sei untersagt. Die Begründung: Im Dachdeckerhandwerk seien aufgrund der „allgemeinen Schwere der Arbeit spezifisch gesundheitliche Schädigungen der Frauen nicht ausgeschlossen.“ Heißt übersetzt so viel, wie: Frauen seien zu schwach, um einer handwerklichen Tätigkeit nachzugehen.
„Heute mag sowas unvorstellbar sein, aber damals wollte die Handwerkskammer meinen Lehrvertrag tatsächlich nicht annehmen“, berichtet Marion Meissner. Das ließen Meissner und ihr Vater nicht auf sich sitzen. Sie wussten, dass es bereits einige Ausnahmen dieser Regel gab, schließlich hatte Marion eine Ausbildungsstelle bei einer Dachdeckermeisterin bekommen. Sie wandten sich mit einem Schreiben an den damaligen Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen. Und dieser antwortete ihnen prompt: Die einzige Ausnahme, die das Gesetz vorsähe, so schrieb er in seinem Brief, seien die „Meistertöchter“. Frauen war es demnach gestattet, eine handwerkliche Ausbildung zu machen, wenn dies zur Erhaltung des Betriebs notwendig war. Also erst dann, wenn es keine männlichen Nachkommen gab, die den Familienbetrieb weiterführen wollen.
Unter der Voraussetzung, dass ein Gutachten beweise, dass der Beruf als Dachdeckerin körperlich unbedenklich für Marion Meissner sei, gab der Minister ihr die Erlaubnis, die Ausbildung zu starten. Dass sie schlussendlich auch ihre Meisterprüfung ablegen durfte, hat sie einem glücklichen Zufall zu verdanken: Eine andere angehende Handwerkerin klagte gegen die altbackene Regelung und erhielt den Zuspruch.
Das Beschäftigungsverbot für Frauen für das Baugewerbe wurde 1983 abgeschafft, ein Jahr nach dem Ausbildungsbeginn von Frau Meissner. Das Nachtarbeitsverbot für Frauen, das im gleichen Gesetz stand, hielt sich noch bis 1994.
Frauen im Handwerk
Heute, 35 Jahre später, schwärmt sie immer noch vom Beruf der Dachdeckerin. „Jedes Dach ist anders, kein Tag ist gleich.“ Und das, obwohl sie es nicht immer einfach hatte. „Ich hatte die Illusion, dass man mich irgendwann nicht mehr als „die Frau“ im Handwerk sieht.“, erzählt Marion Meissner. Während es für die Kollegen Normalität war, sorgte die Tatsache, dass sie eine Frau ist, bei Kund:innen öfters für Gesprächsstoff. Heute kommt sowas nur noch sehr selten vor. Ihrem Status als Teil der 1,5% Frauenanteil im Baugewerbe ist sie sich dennoch bewusst: „Mich sieht jeder. Das ist an sich nichts Schlimmes, aber man muss damit umgehen können.“
Doch nicht nur an weiblichem Nachwuchs mangelt es im Handwerk, auch junge Männer zieht es immer öfter in andere Berufsfelder. Deutschlandweit fehlt es an 65 000 Handwerker:innen. Mehr als jede dritte Ausbildungsstelle bleibt unbesetzt.
Marion Meissner weiß aus eigener Erfahrung, woran das liegen kann – Schule und Erziehung. „Das Handwerk ist ein Stiefkind. Es findet in der Berufsberatung gar nicht statt“, bemängelt die Dachdeckermeisterin und Mutter zweier Kinder. „Bei den meisten Schulen stehen Abitur und Studium im Vordergrund.“ Auch sie musste schon Aufträge aufgrund von zu wenig Mitarbeiter:innen ablehnen.
Die Ausbildung zur Dachdeckerin
Die Ausbildung in Handwerksberufen ist in drei Teile geteilt:
1. die betriebliche Ausbildung, also die praktische Arbeit auf dem Dach.
2. die Berufsschule. Dort lernen sie vor allem die theoretischen Grundlagen.
3. die überbetriebliche Ausbildung. In Bildungszentren können die angehenden Dachdecker:innen alles lernen, was im Alltag zu kurz kommt.
Das Dachdeckerhandwerk wird seit Jahren immer vielseitiger. Mittlerweile installieren Dachdecker:innen Smart-Home Systeme und sorgen mit begrünten Dächern, moderne Dämmungen und der Installation von Photovoltaikanlagen für mehr Umweltschutz im Alltag.
Traumberuf: Handwerkerin
Ein weiteres Problem: erlernte Geschlechterrollen. Um geschlechtliche Stereotypen aufzubrechen, hat der Dachdeckerverband ein Kinderheft herausgebracht, in dem Dachdecker und Dachdeckerinnen gleichermaßen vorkommen. „Mir war früher gar nicht so bewusst, wie wichtig sowas für das Rollenverständnis von Kindern ist. Für meine Kinder waren Frauen im Handwerk nichts Besonderes. Dass ich auf dem Dach war, war für sie das Normalste der Welt“, erzählt sie. Den meisten Mädchen fehlen aber genau solche Vorbilder. Deshalb lädt der Dachdeckerbetrieb Meusch regelmäßig Mädchen im Rahmen des GirlsDays ein, einen Tag Werkstattluft zu schnuppern. „Damit Mädchen davon träumen können, Handwerkerin zu werden“, sagt Marion Meissner mir einem Lächeln.
Auch wenn der Betrieb von Marion Meissner noch immer den Namen des Urgroßvaters trägt, hat sich seit der Firmengründung vor mehr als 100 Jahren so einiges geändert. Das ist nicht nur den veränderten Zeiten geschuldet, sondern vor allem der Führung von Marion Meissner.
Sicherheit und Achtsamkeit geht bei den Bergheimer Dachdecker:innen vor – Machogehabe hat hier keinen Platz. Schweres Material und Werkzeug wird gemeinsam gehoben, alle tragen Handschuhe und wenn das Kind krank ist, bleibt auch Papa mal zu Hause. All diese Dinge sind in vielen Handwerksunternehmer kein Standard. „Ob das daran liegt, dass ich eine Frau bin, weiß ich nicht. Ich bin einfach einfühlsam, was die privaten Probleme meiner Mitarbeiter angeht. Wir verbringen schließlich mehr Zeit miteinander als mit unseren Partnern“, betont die Unternehmerin.
Vom Dach an den Schreibtisch
Während sie als Gesellin morgens früh die Materialien zusammengepackt und den ganzen Tag auf Dächern verbracht hat, war sie als Meisterin im Betrieb des Vaters vor allem für die Arbeitsaufteilung und die Kontrolle der Baustelle zuständig. „Seit ich den Betrieb führe, übernimmt diesen Teil unser Dachdeckermeister Peter Mokry“, erzählt sie. So kann sie sich auf die Dinge konzentrieren, die Hinter den Kulissen geregelt werden müssen – Kalkulation, Abrechnung, Öffentlichkeitsarbeit und alles Finanzielle.

Selbstständigkeit bedeutet viel Verantwortung, sie hat aber vor allem Vorteile. Der größte: Man ist selbstbestimmt und kann sich seine Zeit flexibel einteilen. sie 1994 den Betrieb von ihrem Vater übernimmt, ist sie mit ihrem zweiten Kind schwanger. Kurzerhand richtet sich Marion Meissner ein Kinderzimmer im Büro ein, um immer nah bei ihren Kindern zu sein.
„Ich wusste durch meine Eltern, das Selbstständigkeit mit Kindern vereinbar ist, aber viele denken immer noch, sie müssten sich entscheiden,“ so Marion Meissner. Damit man Arbeit, Haushalt und Kindererziehung unter einen Hut bekommt, ist für sie vor allem eins wichtig: Aufgaben abgeben und Hilfe annehmen.
„Am Anfang war das schwer. Aber es ist etwas, das man lernen muss, wenn man in die Selbstständigkeit geht. Niemand kann alles allein schaffen“, betont die Unternehmerin.
Seit 2014 setzt sich das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) mit der Initiative „FRAUEN unternehmen“ dafür ein, Frauen über Vorbilder zur beruflichen Selbständigkeit zu ermutigen und Mädchen für das Berufsbild „Unternehmerin“ zu begeistern.
Rund 200 Vorbild-Unternehmerinnen deutschlandweit unterstützen die Initiative „FRAUEN unternehmen“ bereits. Als Role-Model für weibliches Unternehmertum geben sie ihre Inspiration und Leidenschaft weiter. Unter ihnen auch Marion Meissner!
Habe einen Plan B, C, D und F!
Für Frauen, die vor der Frage stehen, ob das Unternehmerinnentum das Richtige für sie ist, gibt es viele kostenlose Beratungsangebote bei der Handwerkskammer und der IHK. Ganz klassisch könne auch eine Pro- und Contra-Liste helfen, so Meissner. Was spricht für die unternehmerische Selbstständigkeit? Was für das arbeiten als Angestellte?
Marion Meissner ist es wichtig, auf alles vorbereitet zu sein: „Ich habe immer einen Plan B, C, D und F. Was mache ich, wenn ich krank werde und wichtige Termine anstehen? Wer übernimmt die? Wie gehe ich damit um, wenn es einen Notfall in der Schule gibt?“, erzählt die Bergheimerin.
Letztendlich steht für sie aber vor allem eines fest: „Machbar ist alles!“