Nina Woicke ist Ingenieurin der Verfahrenstechnik, selbstständige Beraterin und Produktentwicklerin. Ihr Herzensthema sind ganz besondere Kunststoffe und deren praktische Anwendungsmöglichkeiten. Um welche Kunststoffe es sich dabei handelt, warum Kunststoff per se nicht „böse“ ist und wie Nina Woicke dazu kam, ein Ingenieur:innen-Studium anzugehen – darüber hat sie mit Sandra Fleckenstein im #ForscherinnenFreitag-Podcast gesprochen. Der Podcast ist ein Angebot der Plattform #InnovativeFrauen. Die Plattform ist im Kompetenzzentrum Technik-Diversity-Chancengleichheit e. V. angesiedelt und wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert. Ergänzt wird das Interview durch Fragen aus der zdi-Redaktion.
Wie wird man Verfahrenstechnikerin?
Sandra Fleckenstein: Du hast ja bisher in deiner Karriere ganz verschiedene berufliche Stationen durchlaufen: Du hast ein Studium und eine Promotion absolviert, hattest Tätigkeiten in Unternehmen, inklusive Führungspositionen. Und heute bist du freie Lehrbeauftragte und freiberufliche Ingenieurin und Beraterin. Wie hat sich dieser Weg für dich ergeben?
Nina Woicke: Dass ich Ingenieurin werden wollte, das war schon relativ früh für mich klar. Ich war immer technisch interessiert und meine Eltern haben dieses Interesse super unterstützt und gefördert. Mit 15 oder 16 Jahren war für mich schon klar, dass ich Verfahrenstechnik studieren will. Alles andere, muss ich sagen, war immer ein bisschen der Nase nach, was sich dann in dem Moment für mich sich richtig und gut angefühlt hat.
Du hast gerade gesagt, deine Eltern hätten dich von Anfang an auf deinem Weg unterstützt. Wie hat damals dein Umfeld auf deinen Berufswunsch reagiert?
Der engste Kreis war sehr, sehr positiv ist und hat mich da voll unterstützt. Für die, die mich gut kannten und erlebt haben, war der Weg ganz klar, denn ich war schon immer technisch interessiert und wissbegierig. Aber klar gab es genügend Leute, die dann gesagt haben – im englischen Sprachraum würde man sagen: „That‘s different“, wobei man heraushören konnte, dass „different“ in dem Moment nicht positiv belegt war. Sondern eher aus der Verlegenheit heraus, nicht zu wissen, was man dazu sagen oder davon halten soll.
Was hat das mit dir damals gemacht?
Oh, das ist schwierig. Man möchte ja natürlich als junger Mensch immer irgendwie dazugehören. Und gerade in der Pubertät setzt man sich häufig mit diesem „Ich bin jetzt ein bisschen anders“ Gefühl auseinander. Aber für mich hat es sich halt richtig angefühlt. Und ich muss gestehen, als ich dann an der Uni angefangen habe, da habe ich dann sofort gemerkt: Die Wellenlänge zwischen mir und den anderen Frauen dort war absolut die gleiche. Das war ein unheimlich tolles Gefühl, mit anderen Frauen zusammen auf derselben Wellenlänge unterwegs zu sein. Und da wusste ich auch, dass es die richtige Entscheidung war das zu tun.
zdi-Redaktion: Wie wichtig ist für dich die gegenseitige Unterstützung von Frauen? Hast du positive Beispiele?
Ein gutes Netzwerk ist immer wichtig. Vor allem in einem technischen Umfeld sind gemischte Netzwerke noch die Regel, da es einfach noch nicht so viele Frauen in Führungspositionen gibt. Für meine persönliche Weiterentwicklung, auch im Kontext der Selbstständigkeit, finde ich frauendominierte Netzwerke aber besonders wertvoll. Denn hier stößt man auf Menschen in ähnlichen Lebenssituationen, die aufgrund der gemeinsamen Parallelen ein größeres Verständnis für die eigene Situation haben.
Als besonders wertvoll empfinde ich die Mastermind-Gruppe des Netzwerks „Women Entrepreneurs in Science„. Hier kann ich mich mit einer festen Gruppe aus anderen Gründerinnen über Herausforderungen und Ziele der Selbstständigkeit austauschen. Wichtig für einen konstruktiven Austausch ist dabei vor allem eine geschützte und vertrauensvolle Atmosphäre. Die ist in dieser Gruppe auf jeden Fall gegeben.
Sandra Fleckenstein: Was möchtest du deinem jüngeren Ich mit auf den Weg geben?
Lass dich nicht von deinen Intuitionen abbringen. Wenn etwas sich richtig anfühlt, dann mach es genauso und lass dich dabei von niemanden beirren.
Wie Kunststoffe die Umwelt retten können
Sandra Fleckenstein: Erzähl uns von deinem Leuchtturmprojekt.
Nina Woicke: Das ist ein total spannendes Projekt: Ich habe noch in meiner alten Firma als Produktentwicklerin gearbeitet, wir haben unter anderem Produkte für die Abwassertechnik gemacht. Wir wurden dann von einem niederländischen Unternehmen angesprochen, das gerne gemeinsam mit uns im Bereich Restauration von Umweltthemen ein neues Produkt machen wollte. Es sollte darum gehen, dass man in Bereichen, wo der Mensch in die Natur eingegriffen hat, diesen Bereich wieder renaturiert. Zuerst ging es darum, dass Muscheln wieder als Muschelbänke angesiedelt werden sollten. Aber Muscheln wachsen der Natur in der Regel auf anderen Muscheln, also auf Muschelbänken. Wurden die Muschelbänke aber komplett abgeerntet, dann tun sich die Muscheln unheimlich schwer, wieder auf Sand zu wachsen. Wir wollten also künstliche Muschelbänke generieren, damit Muscheln wieder auf Stränden anwachsen können.
Und diese künstlichen Muschelbänke habt ihr aus der Kunststoff-Technik heraus entwickelt?
Ja genau. Die Idee war, das Ganze zu abstrahieren. Wir machen nicht einfach kleine Muscheln, sondern ein relativ abstraktes, mattes, gitterähnliches Konstrukt aus Kunststoff. Aber – und das ist das Besondere – wir nehmen keinen konventionellen Kunststoff, sondern einen biobasierten und bioabbaubaren Kunststoff. Wenn sich erstmal Muscheln angesiedelt haben und Muscheln wieder auf Muscheln wachsen können, dann zersetzt sich der Kunststoff und nach einigen Jahren sind nur noch Muscheln da. So ist dann der natürliche Zustand, bevor der Mensch eingegriffen hatte, wieder hergestellt.
Und spürst du mittlerweile eine Veränderung in der Kunststoff-Technik, hin zur Nachhaltigkeit?
Mein Eindruck ist schon, dass da gerade aktuell in den letzten Jahren sehr viel in Bewegung gekommen ist und dass man in alle Richtungen an die Nachhaltigkeit denkt. Nicht nur bei bioabbaubaren und biobasierten Kunststoffen, sondern eben auch das ganze Thema des Recyclings. Also: Wie kann ich das Recycling von Kunststoffen verbessern? Da ist sehr viel in Bewegung und das finde ich auch gut und richtig. Und man braucht, glaube ich, auch mehr als eine spezifische Lösung, um Kunststoff-Themen zu verändern und zu verbessern.
Also kann ich als Message heute für mich mitnehmen: Kunststoffe sind per se gar nicht „böse“?
Definitiv. Man muss ja sagen, wir können uns unser Leben ohne Kunststoffe nicht mehr vorstellen. Der Laptop, vor dem wir sitzen, besteht zu großen Teilen aus Kunststoff. Wenn wir den jetzt beispielsweise durch Metall ersetzen würden, dann würden wir erstens ein Vielfaches dafür ausgeben und auch umwelttechnisch wäre das nicht zwangsläufig die bessere Lösung. Das heißt, in vielen Bereichen hat Kunststoff die Produkte energieeffizienter gemacht und auch erschwinglich für jedermann. Verschiedene Produkte, die früher nur für die High Society, die oberen 1 %, zugänglich waren, sind jetzt Massenprodukte geworden und da hat der Kunststoff seinen positiven Aspekt einbringen können. Und insofern: Nein, Kunststoffe sind nicht an sich „böse“. Trotzdem gibt es genügend Probleme, die mit dem Kunststoff einhergehen, die auch noch längst nicht alle gelöst sind.
zdi-Redaktion: Welche Ansätze siehst du im Bereich der Verfahrenstechnik, die für die Forscherinnen von Morgen wichtig werden könnten?
Die Verfahrenstechnik ist wahnsinnig breit aufgestellt, der Bereich Kunststofftechnik ist dabei eher ein Exot. Aus meiner Sicht werden vor allem zwei große Themen die zukünftigen Verfahrenstechniker:innen beschäftigen: Die industrielle Aufbereitung von Lebensmitteln, um eine stetig wachsende Weltbevölkerung ernähren zu können. Und die Aufbereitung und Bereitstellung von sauberem Wasser. Der Begriff „industriell“ hat heutzutage einen eher schlechten Ruf, dabei bedeutet er im Grunde nur „für viele“ und genau diese Versorgung von sehr vielen Menschen mit Lebensmitteln und Wasser muss gesichert werden können.
Auch die Energieübertragung oder das zur Verfügung stellen von Wasserstoff wird die Verfahrenstechniker:innen der Zukunft mit Sicherheit beschäftigen.
Sandra Fleckenstein: Was ist denn dein Wunsch für die Zukunft, bezogen auf die Kunststoff Technik oder speziell auch auf die Bio Kunststoff Technik?
Ich wünsche mir, dass einerseits weiterhin eine kontroverse Auseinandersetzung stattfindet, aber auch, dass man versteht, dass es ein unheimlich komplexes Thema ist. Dass es wahrscheinlich keine One-Fits-All-Lösung geben wird, sondern dass man immer sehr genau hingucken muss: Welches Material, welche Zusammensetzung, welche Lösung ist die beste? Also wenn ich jetzt auf den Laptop zurückkomme, brauche ich da unbedingt einen bioabbaubaren Kunststoff für ein Produkt, was im Idealfall nicht weggeschmissen wird, sondern möglicherweise repariert wird? Das heißt, dann brauche ich auch das Gehäuse nicht mit wegschmeißen. Und dann kann ich vielleicht sogar sagen: Ich nehme einen hochwertigeren Kunststoff, damit das Gehäuse auch zehn, 20 Jahre hält. Weil ich eben den Computer als Ganzes nicht entsorge, sondern ich dafür sorge, dass er eine möglichst lange Lebensdauer hat. Solche Konzepte sollten eben kompletter gedacht werden, als immer nur den einzelnen Werkstoff zu betrachten.
zdi-Redaktion: Hast du Tipps dafür, wie Wissenschaftstransfer funktionieren kann?
Wenn es einem gelingt, die eigene Begeisterung für ein Thema zu vermitteln und zu teilen, dann ist schon viel gewonnen. Wenn man die Gelegenheit – also die Zeit und den Raum – bekommt, sich auch mit alltäglichen Dingen ganz im Detail zu befassen und sich Fragen zu diesen Dingen zu stellen, dann ist auch die Faszination für diese Dinge nicht weit. Ein Beispiel: Für viele ist eine Zahnbürste einfach eine Zahnbürste. Wenn man sie sich aber im Detail anschaut, die vielen kleinen Borsten sieht, sich überlegt, dass jedes einzelne Härchen einmal produziert und verarbeitet werden musste, sich dann fragt, wie funktioniert das überhaupt… so kann Begeisterung und Faszination entstehen.
Besonders schön finde ich dabei, dass die Antworten auf solche Fragen heute oft nur einen Mausklick entfernt sind. Durch das Internet hat man direkten Zugriff auf viele Informationen und kann so den Wissenschaftstransfer selbst und im eigenen Tempo gestalten.
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Im #ForscherinnenFreitag-Podcast finden Sie weitere spannende Interviews mit Akteurinnen der Plattform #InnovativeFrauen. Die Plattform ist im Kompetenzzentrum Technik-Diversity-Chancengleichheit e. V. angesiedelt und wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert.