Interview: Mädchen für Technik begeistern mit Juliane Orth und Gesche Neusel

„Technikjournalismus für alle” ist das Motto des Forschungsprojekts „Elektrotechnik statt BibisBeautyPalace”. Das Projekt wurde an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg unter der Leitung von Prof. Dr. Susanne Keil durgeführt. Über das Projekt und die daraus entstandenen Leitlinien haben wir hier auf dem zdi-Portal bereits berichtet.

Im Interview haben wir mit Gesche Neusel von der Gleichstellungsstelle der Hochschule und Juliane Orth, wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Forschungsprojekt und Referentin für Öffentlichkeitsarbeit, darüber gesprochen, wie sich Mädchen für Technik und Technikjournalismus begeistern lassen. Auch persönliche Erfahrungen im MINT-Bereich kamen zum Tragen und die Bedeutung eines offenen Umgangs mit Fehlern.

Hier geht es zum Blog-Beitrag über die Abschlussveranstaltung des Forschungsprojekts:

Das Foto zeigt Gesche Neusel, die im Forschungsprojekt „Elektrotechnik statt BibisBeautyPalace” Mädchen für Technik begeistern konnte.

Gesche Neusel von der Gleichstellungsstelle der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg.

Das Foto zeigt Juliane Orth, die im Forschungsprojekt „Elektrotechnik statt BibisBeautyPalace” Mädchen für Technik begeistern konnte.
© Juri Küstenmacher

Juliane Orth, Doktorandin, Referentin Öffentlichkeitsarbeit und Marketing im Fachbereich Ingenieurwissenschaften und Kommunikation (IWK) und Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt Technik – Gender – Journalismus

Das Interview findet Ihr auch auf unserem YouTube-Kanal @zdi.NRW Apropos offener Umgang mit Fehlern: Bei der Aufzeichnung des Interviews ist uns leider ein Fehler unterlaufen, weshalb Juliane Orth nur mit Foto zu sehen ist. © des Fotos von Juliane Orth: Juri Küstenmacher.

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„Technik habe ich mir nicht zugetraut”

Gwendolyn Paul: Gesche, von dir weiß ich, dass du nicht nur Mitarbeiterin der Gleichstellungsstelle der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg bist. Du bist auch Biologin und somit eine „echte” MINT-lerin. Wie war dein Weg dorthin? Gab es Umwege oder war der Weg eher gradlinig?

Gesche Neusel: Mein Weg war recht gradlinig. Ich wusste schon von klein auf, dass ich Verhaltensbiologin werden möchte und das bin ich jetzt auch. Damals habe ich mir allerdings vorgestellt, ich würde jetzt in Kanada in der Einsamkeit leben und an wild lebenden Wölfen forschen. Nicht unbedingt gradlinig war es in dem Sinne, dass ich über den zweiten Bildungsweg mein Abitur gemacht habe. Ich habe auf der Realschule nicht direkt die Qualifikation bekommen. Mir war aber klar, dass man studieren muss, um Biologin zu werden. Ich habe zunächst eine Ausbildung zur Biologisch-Technischen Assistentin gemacht und nebenbei das Abitur nachgeholt.

Der Screenshot zeigt (v.l.n.r.): Gesche Neusel, Gwendolyn Paul und Juliane Orth.
© Fotos von Juliane Orth: Juri Küstenmacher.

Gwendolyn Paul: Und wie ist es bei dir, Juliane? Du bist ja keine klassische MINT-lerin, sondern bei dir kommt der Bezug über den Technikjournalismus oder?

Juliane Orth: Genau. Bei mir war der Weg ins Studium auch recht gradlinig. Ich habe mich schon immer für Technik interessiert, mir aber ein technisches Studium nicht zugetraut. Und dann habe ich diesen tollen Studiengang „Technikjournalismus” an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg entdeckt und fand das sehr interessant.

Ich dachte mir, dass ich Kommunikation schon irgendwie hinbekomme. Vom Bachelor bin ich dann auch im Master noch an der Hochschule „kleben geblieben” und durfte direkt an meinem ersten Forschungsprojekt teilnehmen. Das war dann „Elektrotechnik statt BibisBeautyPalace”.

Mit Videodrehs Technikbegeisterung wecken

Gwendolyn Paul: Könnt ihr dieses Forschungsprojekt kurz vorstellen? Welcher Ansatz steckt dahinter und was waren die wichtigsten Erkenntnisse?

Juliane Orth: Das Projekt fand statt unter der Leitung von Prof. Dr. Susanne Keil. Gestartet haben wir mit einer Vorstudie. Dabei haben wir in Gruppendiskussionen mit Schülerinnen an Schulen geschaut, was Technik und Technikberichterstattung für Mädchen interessant macht. Über welche Kanäle informieren sie sich? Was ist ihnen wichtig? Uns ging es dabei nicht darum, Mädchen für Technik zu begeistern, die gar kein Interesse daran haben. Sondern Mädchen in ihrem (bestehenden) Interesse zu stärken und auf lange Sicht eine gewisse Selbstverständigung im Umgang mit Technik zu erwirken. Ich glaube, ich selbst bin ein gutes Beispiel für die Zielgruppe: Ich hatte schon immer ein Interesse an Technik und war auch von meinem männlichen Freundeskreis, der gerne an Autos geschraubt hat, fasziniert. Ich habe es mir selbst aber nie zugetraut. Hätte ich damals einen YouTube-Kanal oder einen Instagram-Auftritt gehabt, der mich pusht und unterstützt, dann wäre mein Weg vielleicht anders verlaufen und ich hätte doch einen technischen Studiengang ergriffen. Das war unser Grundgedanke.

Auf Basis der Gruppendiskussionen haben wir uns dann für YouTube als Kanal entschieden, dieses Medium genauer unter die Lupe genommen und schließlich die Mädchen selbst an die Kamera gestellt. Sie sollten sich selbst ein Technik-Thema aussuchen und so kam es zur Verknüpfung mit Gesche und den Ferienkursen der Gleichstellungsstelle, in denen die Mädchen ihre Videos produzieren konnten. Gesche hat sie dann von der technischen Seite her betreut und das Equipment gebracht und wir vom Forschungsprojekt haben die Mädchen auf der medialen Seite unterstützt.

Das Foto zeigt alle sieben Teilnehmerinnen der Podiumsdiskussion, die im Halbkreis in Sesseln sitzen. Kerstin Helmerdig hat das Mikrofon und spricht.
Podiumsdiskussion im Rahmen der Präsentation der Forschungsergebnisse des Projekts „Elektrotechnik statt BibisBeautyPalace”© Martin J. Schulz

„Der Köder muss dem Fisch schmecken und nicht dem Angler”

Gwendolyn Paul: Wie war das Feedback von den Mädchen? Habt ihr eine Veränderung bei den Teilnehmerinnen bemerken können, in dem Sinne, dass eine anfängliche Skepsis in Selbstbewusstsein umschlägt?

Juliane Orth: Solche Entwicklungen gab es auf jeden Fall. Dazu muss man aber sagen, dass es durchaus große Unterschiede bei den Mädels gab. Denn die Mädchen, die sich bewusst für einen Technik-Kurs anmelden, sind oft schon selbstbewusster unterwegs. In unseren Kursen waren dann aber auch Mädchen dabei, die sich in einem rein technischen Rahmen nicht angemeldet hätten und von denen einige sich den Umgang mit Technik gar nicht zugetraut haben oder glaubten, sich nicht für Technik zu interessieren. Die nur dabei waren, weil sie ein YouTube-Video drehen wollten oder weil sie gerne diskutieren. Am Ende des Kurses kamen von diesen Mädchen dann Aussagen wie: „Ich wusste gar nicht, dass Fotografie oder Kameratechnik auch Technik ist! Dann verstehe ich ja doch viel mehr, als ich dachte! ”. Ich glaube, diese Erfahrung war für die Mädels schon ein Zugewinn an Erfahrung und eine Stärkung des Technik-Selbstbewusstseins.

Gesche Neusel: Der Köder muss dem Fisch schmecken und nicht dem Angler. Es ist oft so, dass man die Mädchen über andere Themen in die Technik-Kurse bekommt, wie YouTube oder Podcasts. Dann kann man ihnen zeigen, wie groß der technische Anteil dabei ist oder man beschäftigt sich mit technischen Themen und erzielt so genau den Effekt, den Juliane beschrieben hat: Die Mädchen merken, dass sie viel kompetenter sind, als sie sich selbst vorher zugetraut haben.

Technik ist ja ein Thema, was sich viel mehr Menschen zutrauen würden, wenn die Begabung nicht so hoch gehangen würde. „Technikbegabung” ist ja ein feststehender Begriff. Viele Menschen denken dann entweder sie können etwas oder sie können etwas nicht, statt es mit Lernen und Üben zu verbinden. Dieses falsche Klischee muss man aufbrechen, dass man sofort programmieren kann oder sofort weiß, wo man welches Kabel hinstecken muss. Es ist ja vielmehr so, dass es mit Übung zu tun hat, mit Routine und der Beschäftigung mit etwas.

Positive Fehlerkultur statt Begabungsklischee

Gwendolyn Paul: Was sind aus eurer Sicht die wichtigsten Faktoren, damit Mädchen einen Zugang zu Technik finden?

Gesche Neusel: Wie gerade angesprochen, muss man das Bild der Technik wandeln. Man muss die kommunikative Seite und die Teamarbeitsaspekte, das Interdisziplinäre deutlicher machen. Denn das alles steckt in Technik drin, genauso wie verschiedene Problemlösungsstrategien oder kreatives Arbeiten. Denn niemand, der unkreativ ist, wird im MINT-Bereich weit kommen. Wenn man das alles aufzeigen kann, dann kann man auch Mädchen gut für Technik begeistern.

Juliane Orth: Ich glaube, ein offener und positiver Umgang mit Fehlern ist sehr wichtig. Es ist wichtig zu zeigen, dass man im Umgang mit Technik Fehler machen kann – aber auch, wie man diese beim nächsten Mal umgeht oder löst. Der Umgang mit Fehlern war den Projektteilnehmerinnen auch sehr wichtig, das wollten sie gerne in ihren Videos zeigen.

Gesche Neusel: Wir als Frauen wissen ja schon: Wenn wir bei technischen Dingen Fehler machen, dann bedienen wir ein Klischee. Das kann sehr unangenehm sein, wenn es dann heißt: „Sie kann das deshalb nicht, weil sie eine Frau ist.” Dadurch wird man noch verkrampfter und wiederum anfälliger für Fehler, statt die Ruhe zu bewahren. Wenn man aber – bei Jungen wie bei Mädchen – sagt: „Ups, da ist was schiefgegangen” und die Korrektur zeigt, also offen mit gemachten Fehlern umgeht, dann bricht das auch dieses Klischee der Begabung auf.

Gwendolyn Paul: Genau, denn Fehler passieren nun mal, ganz unabhängig vom Geschlecht.

Gesche Neusel: In der Welt der Sozialen Medien ist es nochmal schwieriger, denn dort sieht man in der kurzen Zeit meistens nur die Bestleistung.

Frauen in Technikberufen sind ein Gewinn für die Gesellschaft

Gwendolyn Paul: Und man hat gar nicht die Möglichkeit, hinter das Perfekte zu schauen, genau. Gibt es noch eine Botschaft, die ihr jungen Frauen und Mädchen mit auf den Weg geben möchtet?

Schülerinnen beim zdi-Mädchen-Camp
Schülerinnen beim zdi-Mädchen Camp 2022, © zdi.NRW

Gesche Neusel: Die Mädchen unterschätzen oft, wie wichtig es für die Gesellschaft ist, dass sie präsent sind. Durch das Thema Künstliche Intelligenz kommt heute auch das Thema der Gender-Data-Gap auf den Tisch. Wer trainiert die KIs? Wer bildet die neuen Realitäten? Das sind häufig nur Männer. Das ist schädlich, denn dadurch entsteht das Bild, dass der „Norm-Mensch” der Mann ist. Deshalb ist es wichtig, dass wir Mädchen dafür gewinnen, ihre eigene Perspektive einzubringen. Das bringt der Gesellschaft etwas und dieser Punkt ist wiederum auch den Mädchen wichtig. Außerdem verpassen die Mädchen tolle Berufe mit guten Gehältern. Es lohnt sich also auf jeden Fall, sich den Technik-Bereich genauer anzuschauen.

Juliane Orth: Absolut perfekt ausgedrückt, dem habe ich nichts hinzuzufügen.

Ausblick auf das zdi-Mädchen Camp 2023

Gwendolyn Paul: Zum Abschluss würde ich gerne noch auf das zdi-Mädchen-Camp schauen, das am 26. Oktober im Schloss Scholte-Stukenbrock stattfinden wird und über das wir natürlich auch hier auf dem zdi-Portal berichten werden. Ihr beide werdet dort einen Vortrag halten. Möchtet ihr einen kleinen Ausblick geben, was uns erwartet? Und welche Reaktionen würdet ihr euch von den anwesenden Mädchen wünschen?

Gesche Neusel: Ein Teaser wäre das, was ich gerade gesagt habe: Wir möchten zeigen, wie wichtig es für die Gesellschaft und für sie selbst ist, dass wir Mädchen für Technik gewinnen. Als Reaktion würde ich mir wünschen, dass Kampfgeist geweckt wird, dass sie mutig werden.

Juliane Orth: Ich habe auch kein Problem mit Kritik. Auch bei den Gruppendiskussionen in der Vorstudie war es oft so, dass die Mädchen entrüstet waren und gesagt haben: „Wir können das doch! Mädchen sind doch nicht blöd! ”. Wenn man dann hinterfragt, was sie zu solchen Aussagen motiviert, welche Gefühle da ausgelöst werden, entstehen die spannendsten Diskussionen. Für solche heftigen Reaktionen bin ich absolut offen.

Gwendolyn Paul: Dann freue ich mich auf einen Vortrag, der hoffentlich heftige Reaktionen auslöst! Vielen Dank für das Interview.


Hier findet Ihr den Nachbericht zum zdi-Mädchen Camp 2022:

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