Wie entsteht eigentlich ein Pullover? Woraus besteht ein Pflaster? Und was hat ein Fahrrad mit Textilien zu tun? Anna Burst (Textilingenieurin) und Victoria Gebhart (Designingenieurin), beide bei FEMNET aktiv, sprechen über ihren Weg zum Job. Das Interview stellt die Redaktion von lizzynet.de anlässlich des zdi-Heldinnen-Oktober zur Verfügung.
Was macht eine Textilingenieurin bzw. eine Textile Produkt-Designerin eigentlich? (Und stehen beide Bezeichnungen für das gleiche Studium?)
Victoria: Als Design-Ingenieurin mit dem Fokus auf Textil kann man sich unzähligen Aufgaben innerhalb der Textil- und Bekleidungsindustrie widmen. Innovationen und Entwicklungen nachhaltiger Designs stehen im Fokus – nicht allein der Entwurf / die Zeichnung eines neuen Bekleidungsstücks oder Textils werden von einer Design-Ingenieurin gefordert, sondern das Verständnis der unterschiedlichen Herstellungsprozesse innerhalb der Textil- und Bekleidungsindustrie.
Welche Rohstoffe werden verwendet? Wie sieht der Schnitt eines Produkts aus? Welche Maschinen werden verwendet? Wie können Produkte gepflegt werden, und wie werden sie ressourcenschonend verwertet, kann ich das Produkt wiederverwenden und wenn ja, wie? Das sind einige der Fragen, die sich auch eine Design-Ingenieurin stellen muss, denn schon während des Designprozesses, sprich der Ideenfindung, klärt sich, ob ein Produkt nachhaltig wird oder nicht. Während viele meiner Kommiliton_innen schon im Bachelorstudium die Studienrichtung „Design“ wählten, entschied ich mich erst nach meinem Bachelor im Bereich Textiltechnik für die Richtung Design, da sie sehr kreativ und vielfältig ist.
Anna: Das was Victoria sagt, gilt natürlich auch für die Ingenieur_innen. Als Textilingenieurin kann man sich ebenfalls unzähligen Aufgaben widmen und in ebenso vielen Industrien arbeiten. Oft ist einem nicht bewusst, wie viel Textil in Produkten steckt. Zum Beispiel in der Medizintechnik als Kompressionstextilien, im Baubereich als Schutznetz oder in der Automobilindustrie als Autositz oder Hutablage. In den Bereichen kann man dann jeweils eher technisch-orientiert oder management-orientiert arbeiten – je nachdem, was einem eher liegt. Die Textilindustrie ist außerdem sehr global aufgestellt. Dadurch hat man bereits zu Beginn des Studiums die Chance, berufliche Erfahrungen zu sammeln und gleichzeitig die Welt zu bereisen.
Anna Burst
Foto: Anna Jaissle
Victoria Gebhart
Foto: privat
Ingenieurin: Das klingt erst mal nach viel Mathe und Technik. Welche Schulfächer sollten einem besonders liegen, wenn man diesen Weg einschlagen möchte?
Anna: Da hast du auf jeden Fall Recht. Die Fächer Physik, Mathe und Chemie sind Teil unseres Grundstudiums. Allerdings sind das alles intensivierte Grundlagen, die man bereits aus der Schule kennt. Ich denke aber, dass es bei der Studienwahl vor allem darum geht, neugierig zu sein und Lust auf den Bereich der Textilien zu haben. Man darf auch nicht vergessen, dass man später im Job nochmal viel mehr dazulernt und da auch die Persönlichkeit zählt. Daher weniger auf Schulnoten achten und eher nach Interesse gehen. Ich zumindest habe durch das Studium besonders gelernt, dass man alles lernen und schaffen kann, wenn man richtig Lust darauf hat!
Habt ihr Tipps, wie man sich auf das Studium vorbereiten kann?
Anna: Beschäftige dich mit den Materialien deiner Kleidung. Schau dir das Care-Label deiner Kleidung an und schaue nach, wo deine Kleidung hergestellt wurde und aus welchen Materialien sie ist. Gehe dann dem Ganzen nach und schaue, woher kommt Baumwolle, was ist überhaupt Polyamid und wie entsteht eigentlich ein Stoff? Ansonsten halte einfach die Augen im Alltag auf und beobachte verschiedene textile Oberflächen bzw. Stoffe, die dir auffallen.
Welche Interessen sollte man mitbringen, wenn man als Textilingenieurin arbeiten möchte?
Victoria: Ich bin gelernte Maßschneiderin und bin somit relativ schnell mit Textilien in Berührung gekommen. Nach meiner Ausbildung wollte ich mein Wissen in einem Studium vertiefen und empfand einen Bachelor of Science (Ingenieurwissenschaften) als etwas total Neues und Spannendes – obwohl ich während der Schulzeit nie Freundin der Naturwissenschaften war. 🙂 Ich glaube, jede_r der Lust hat, die Entstehung eines textilen Produkts von der Idee bis zum Fertigteil mit zu verfolgen, wird in dieser vielfältigen Branche sein Glück finden. Entweder man widmet sich der Mode oder eben dem Textil und kann sein Glück beispielsweise in der innovativen Automobilbranche finden oder auch in einem Studio für Textildesign.
Und in welchen Branchen kann man damit aktiv werden?
Victoria: Wie bereits erwähnt, ist die Branche unglaublich vielfältig. Textil spielt eine riesige Rolle, nicht nur im Bereich Mode, denn Textilien finden sich fast überall: im Auto, an Fahrrädern (Carbon ist eine Hightec-Faser), medizinische Textilien, Schutztextilien für Bundeswehr, Feuerwehr oder Polizei (Ballistik). Es finden sich also nicht nur Jobs in klassischen Modeunternehmen, sondern auch in der Automobilbranche oder Produktionsunternehmen für „etwas andere“ Textilien. 🙂
Geht es im Studium um Nachhaltigkeitsaspekte und um faire Mode, oder habt ihr euch da mit euren Interessen eine eigene Sparte gesucht?
Victoria: Während meines Studiums an der Hochschule Niederrhein wurde das Thema der Nachhaltigkeit von Jahr zu Jahr relevanter. Während Fächer wie CSR Management (Corporate Social Responsibility) anfangs noch ein Wahlpflichtfach waren, ging es später auch in Vorlesungen und Projekten immer um nachhaltige Textilien, Auswirkungen der Herstellung von Textilien und wie Ressourcen besser eingespart werden können etc. Es ist sehr schön, dass ich diesen Prozess miterleben durfte und die zukünftigen Generationen von Anfang an die Notwendigkeit der Nachhaltigkeit innerhalb der Textil-und Bekleidungsindustrie im Studium erlernen können.
Anna: In meinem Bachelor-Studium an der HS Reutlingen stand das Thema noch nicht so wirklich im Fokus – ich hoffe aber, dass sich das jetzt geändert hat. In meinem späteren Masterstudium an der HS Niederrhein war das Thema der Nachhaltigkeit wiederum präsenter. Mein größter Antrieb und der Grund dafür, warum ich jetzt in der Branche für faire Mode bin, war besonders mein eigenes Pflichtbewusstsein als studierte Textilingenieurin. Zum einen habe ich gemerkt, dass das Wissen über Textilien in der Bevölkerung völlig verloren gegangen ist und zum anderen fiel mir auf, dass genauso das Wissen um die Zustände der Textil- und Bekleidungsindustrie gerne in Vergessenheit gerät. Mittlerweile sehe ich das als meine Aufgabe bzw. Berufung an – als Stimme zwischen Konsument_innen und Industrie zu agieren, um den Status Quo zu verändern.
Was hat euer Interesse für nachhaltige Mode geweckt?
Victoria: Schon während meiner Ausbildung fing ich an, meinen eigenen Konsum von Kleidern zu hinterfragen – damals auch unter dem Aspekt, dass die Qualitäten von klassischen Fast Fashion Unternehmen wie H&M oder Zara super schlecht waren und ich mir als Maßschneiderin eigene Sachen nähen wollte, die gefühlt tausend Mal besser verarbeitet waren. Aus diesem Grund finde ich das Thema der nachhaltigen Mode sehr spannend.
Was ist euch bei der Suche nach „neuen“ Klamotten für euch selbst besonders wichtig?
Victoria: Mein Tipp: Je weniger Konsum desto besser. 😉 Denn die meisten der Klamotten, die einem schmackhaft gemacht werden, brauchen wir gar nicht im Schrank – weil wir etwas Ähnliches schon haben oder es uns am Ende doch gar nicht gefällt.
Anna: Neue Kleidungsstücke kaufe ich gar nicht mehr, da ich zum einen vieles habe und es zum anderen bereits viel zu viel Kleidung gibt. Mein größter Tipp für alle Textilkäufe ist allerdings: Schaue dir – vor dem Kauf – das Textillabel an und checke, aus welchen Materialien dein Kleidungsstück ist. Je weniger Materialien auf der Liste stehen, umso besser!
Victoria, du hast einen Kurzfilm in Äthiopien produziert, wie kam es dazu?
Victoria: Während meines Masters hatte ich die Möglichkeit, zusammen mit einem Kommilitonen ein Praktikum in Äthiopien zu absolvieren. Als Textilerin eine super spannende Erfahrung, da in Äthiopien gerade die Textil- und Bekleidungsindustrie à la Südostasien etabliert werden soll. So konnten wir zusammen sehen, was innerhalb Äthiopiens alles passiert und welche Auswirkungen diese Industrie auf Menschen und Kultur haben – das alles haben wir gefilmt, um unsere Erfahrungen mit allen Interessierten zu teilen. 🙂
Kleiderei Radio: Radioshow über nachhaltige Mode und Textilien von Anna Burst und Amelie Liebst.
Kurzfilm Made In Ethiopia: Ein Portrait über die aufstrebende Textilindustrie in Äthiopien.
Blogbeitrag Masterarbeit Anna Burst: Mode & kulturelle Relevanz
Anna, laut der Kleiderei-Seite interessierst du dich neben Mode auch sehr für das Thema Feminismus. Was haben die beiden Themen für dich miteinander zu tun?
Anna: Mehr als 80% der Menschen, die in Textilfabriken arbeiten, sind Frauen. Viele davon leiden dabei unter Ausbeutung, Diskriminierung und geschlechtsspezifischer Gewalt. Mein Leitgedanke dabei ist: Wie kann ich mich hier im globalen Norden für Frauenrechte einsetzen, aber ignorieren, dass meine T-Shirts von Frauen produziert werden, die dabei misshandelt werden? Das funktioniert für mich nicht, und deshalb ist besonders in dieser Industrie der Feminismus unentbehrlich und steht für die Gleichberechtigung von Frau und Mann ein – egal wo wir auf dieser Welt sind.
Was für Tipps habt ihr an Jugendliche mit kleinem Geldbeutel, aber großer Faszination für nachhaltige Mode?
Anna: Nachhaltig ist das, was bereits im Kreislauf ist. Nutze also eher Angebote wie Second-Hand, leihe deine Kleidung über Services wie z.B. die Kleiderei oder veranstalte Tauschflohmärkte mit deinen Freund_innen, Verwandten oder in deiner Schule. Ansonsten bin ich schon immer Fan vom Selbermachen. Ich nähe tatsächlich nicht so gerne, daher sind meine Tipps besonders praktisch: Schneide Sachen ab, färbe sie selbstständig ein oder verwende sie für andere Zwecke weiter. Das macht Spaß und lässt dich kreativ werden.